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Ein Besuch bei Michael Braungart: In Kreisen denken

INSIDE-Geschichten des Jahres (3)

In Kreisen denken

01. Januar 2025, 16:31
Haus der Patriotischen Gesellschaft

Nachhaltigkeit klingt oft wie Verzicht, aber hier in der Hamburger Altstadt lernte ich: Es geht auch anders – mit Innovation, Vision und manchmal sogar essbaren Möbelstoffen.

Anfang März brachte mich ein kurzer Tagestrip von München nach Hamburg – mitten in die Altstadt, zur bekannten Trostbrücke, wo sich vom Mittelalter bis zum großen Brand von 1842 das Zentrum der Hansestadt befand und der innerste Teil des Hafens. Dort, am Nikolaifleet und nahe der kleinen Alster und dem Zollkanal, steht heute noch ein beeindruckendes Backsteingebäude. Der Name: Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765. Und der sorgte bei meinem Ankommen gleich mal für Verwirrung. Patriotische Gesellschaft? Von 1765? Mein erster Eindruck: Hier bin ich falsch.

Schließlich hatte ich ja einen Termin mit zwei sehr fortschrittlichen Köpfen: Prof. Michael Braungart und Mo Drescher. Braungart, deutscher Chemiker und Umweltwissenschaftler, gilt als Mitbegründer des Cradle-to-Cradle-Prinzips, einer Philosophie für nachhaltige Produktgestaltung und Kreislaufwirtschaft. Gemeinsam mit dem US-amerikanischen Architekten William McDonough entwickelte er das Konzept, das darauf abzielt, Abfall zu vermeiden, indem Materialien in geschlossenen Kreisläufen zirkulieren. Und Mo Drescher, Experte für ökologische Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft, entwickelte die InnovationPositive- Methode und gründete das Beratungsunternehmen MODC. Zu seinen Kunden zählen Bugatti, Hermès, Marantec, McDonald's, Ricola und Vieri.

Das Rätsel um die Patriotische Gesellschaft von 1765, das hatte sich dann mit meinem Eintreten auch bald geklärt. Die Gesellschaft hat nämlich keineswegs das gesamte Haus für sich vereinnahmt und hat auch nichts mit einer irgendwie erzkonservativen Gesinnung zu tun. Rein gar nichts. Sie ist, wie ich dann erfahren habe, in der Aufklärung entstanden und engagiert sich für soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen in der Stadt. Und: Neben Lauenstein & Lau Immobilien, der Saalhaus GmbH und einem Hans im Glück-Burgergrill hat eben auch die Braungart EPEA ihre Büros in dem historischen Bau.

Und in die durfte ich nun einen Blick werfen und auch einiges darüber lernen, was es denn mit dem Cradle-to-Cradle-Prinzip auf sich hat. Direkt vom Mit-Erfinder des Prinzips, einem intelligenten und unkonventionellen Menschen, der trotz seiner Bekanntheit ohne große Attitüden geblieben ist – aber leider auch nicht zu den einfachsten Interviewpartnern gehört. Nicht, weil er nicht eloquent wäre. Im Gegenteil. Ehrlich gesagt, hatte ich manchmal Mühe, den Antworten, gespickt mit Chemie-Fachvokabular und durchsetzt mit teils gewaltigen Gedankensprüngen, zu folgen. Das wurde redaktionell wirklich eine Herausforderung. Aber ich denke, es ist spannend genug geworden – immerhin kam es auf Seite 3 unseres großen INSIDE Spezial Neue Ideen.

Andere Antworten kamen auch so klar, dass sie lange hängen bleiben: „Es geht nicht darum, weniger schlecht zu sein“, sagte er zum Beispiel direkt, „sondern gut. Nachhaltigkeit an sich ist nicht genug, wir brauchen Innovation.“ Inmitten der globalen Herausforderungen – steigende CO2-Emissionen, schmelzende Polkappen und Hitzerekorde – wirkt Braungarts Ansatz fast wie eine radikale Kampfansage. Essbare Möbelstoffe, biologisch abbaubare Schuhe mit Blumensamen in der Sohle – das ist keine Science-Fiction, sondern Realität, entwickelt unter seiner Leitung. „Warum sollte etwas, das wir wegwerfen, Müll sein?“, fragte er. „Warum kann es nicht zum Nährstoff werden?“ Drescher, ein Mann, der sich ähnlich leidenschaftlich für Transformation einsetzt, brachte eine pragmatische Perspektive ins Gespräch. „Die meisten Unternehmen stecken auf halbem Weg fest“, erklärte er. „Sie versuchen, das Falsche effizienter zu machen, anstatt das Richtige zu tun.“ Drescher, der durch das Braungarts Buch „Cradle to Cradle“ seine berufliche Neuorientierung fand, hat ein Ziel: echte Innovation statt Greenwashing.

Während Braungart und Drescher ihre Ansätze erläuterten, wurde mir deutlich, dass sie nicht nur visionär denken, sondern auch praktische Lösungen bieten. Braungarts EPEA arbeitet weltweit mit Unternehmen zusammen, die bereit sind, alte Denkmuster zu durchbrechen. Drescher setzt auf interne Begeisterung: „Wenn Mitarbeitende den Wandel mittragen, wird er nachhaltig.“ Der Tag endete mit einer Führung durch die Räumlichkeiten. Ich blickte auf Materialien, die ich bisher nicht mit Nachhaltigkeit assoziiert hätte, hörte von Projekten, die zeigen, wie weit Cradle to Cradle bereits gewachsen ist. Braungart und Drescher sind keine Idealisten ohne Bodenhaftung – sie sind Realisten mit Visionen, die zeigen, dass Kreislaufwirtschaft keine Sache der Moral ist, sondern der Vernunft. Braungart auf die Frage, ob die deutsche Industrie noch eine Chance hat: „Ja, wenn sie Innovation nicht aus einem schlechten Gewissen heraus betreibt. Allerdings sind wir bei vielen Schlüsseltechnologien mittlerweile weit hinterher, zum Beispiel in der Elektronik, beim Internet, in der Nanotechnik. Aber wir wissen, wie wir Dinge machen können, die gut und gesund sind. Und wenn die Möbelbranche das nicht als Chance begreift, machen wir irgendwann das Recycling für in Tibet gefertigte Möbelstücke.“

Ronny Waburek

Im aktuellen INSIDE Magazin, dem letzten des Jahres 2024, haben wir nochmal zurückgeblickt. Wir haben uns entschlossen, auf den klassischen Jahresrückblick zum Möbelmarkt zu verzichten, der gewiss eine Auflistung von Insolvenzen, Personalwechseln, Geschäftsaufgaben und Unternehmensverkäufen geworden wäre. Stattdessen hat jeder INSIDE-Redakteur (und auch die Redakteurin) in einer Geschichte des Jahres aufgeschrieben, was ihn oder sie am meisten beeindruckt hat in diesem Jahr. Und wir haben zusammengetragen, was uns 2024 nachdenklich gemacht hat. Diese Geschichten des Jahres werden wir nach und nach auch online auf INSIDE Küche veröffentlichen.

 

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