Vor der virtuellen Interzum
Wohin geht der Technik-Trend?
Eine Revolution, wie sie vor fast 20 Jahren die ersten Dämpfungselemente in die Küche gebracht haben, haben die Hersteller von Funktionsbeschlägen in den letzten Jahren nicht mehr losgetreten. Ist deshalb alles erfunden? Auf keinen Fall - sagen die Protagonisten aus der Beschlags-Industrie von Claus Sagel, Gesellschafter der Vauth-Sagel-Gruppe, bis hin zu Blum-Entwicklungsleiter Gerhard Kleinsasser. Auch wenn die Interzum, auf die die Beschlags-Leute ihren Innovationszyklus ausgerichtet haben, heuer nur im Netz stattfindet: Im Vorfeld wurde wieder viel getüftelt und geforscht. Wohin geht die Reise? Wir haben wesentlichen Anbietern im Markt drei Fragen gestellt.

Claus Sagel (Vauth-Sagel)

Frank Huntebrinker (Salice)

Axel Uffmann (Ninka)

Christoph Messing (Linak)

Harald Klüh (Grass)

Gerhard Kleinsasser (Blum)

Norbert Poppenborg (Ambigence)
Nein, wir denken nicht. Es gibt noch einiges zu erfinden. Wenn man sich in einer heutigen Wohnung umschaut, stellt man fest, dass viele sichtbare Funktionen verschwunden sind. Denkt man nur an Heizungen, Licht, Rollläden etc. – gleiches gilt für das Bad. Mehr Komfort bei weniger störenden Elementen. Für das Design sind aber gewohnte Prozesse aufgebrochen worden, um dieses Bild zu erreichen. Den gleichen Weg gilt es in der Küche zu gehen – alte Pfade zu verlassen, zu Gunsten von mehr Funktionalität bei weniger sichtbaren Funktionen. Das betrifft mechanische Funktionsbeschläge genauso wie elektromotorisch angetriebene.
Wir sehen zwei Entwicklungsfelder. Das erste betrifft die Entwicklung hin zu einer technologisch geprägten Küche. Die Küche wird zunehmend zur Schaltzentrale der Wohnung, in der viele Informationen zusammenlaufen. Neue Funktionen werden Einzug halten, die bis heute nicht integraler Bestandteil einer Küche sind. Die Grundstruktur heutiger Küchen bleibt aber erhalten.
Als zweites Entwicklungsfeld sehen wir eine Küche, die nur noch eine grobe Struktur vorgibt, die Gestaltung aber letztendlich dem Endkunden obliegt. Der klassische Möbelkorpus wird in Teilen durch Aufbewahrungs- und Organisationselemente abgelöst. Diese Form bedient das Bedürfnis der Individualisierung auch während der Lebensdauer einer Küche und nicht nur zum Zeitpunkt des Küchenkaufs. Wir können uns vorstellen, dass solche Elemente auf unterschiedlichen Online-Plattformen angeboten werden oder auch gebraucht getauscht werden. Insbesondere dort wird die Integration von Funktionsbeschlägen erforderlich, um die Gestaltung planbar zu machen.
Nein, es gibt sehr unterschiedliche Bedürfnisse in der Küche und natürlich viele verschiedene Anwendungen, die verbessert oder neu gedacht werden können. Im Zuge der Digitalisierung werden sich in den kommenden zehn Jahren nicht nur die Unterhaltungselektronik und die Hausgeräte deutlich weiterentwickeln und neue Funktionen erhalten. Das trifft auch auf die Technologie der Bewegung in Kombination mit unseren Scharnier-, Führungs- und Klappensystemen zu. Hierbei wollen wir unsere Partner unterstützen.
Die Miniaturisierung der Funktionen und deren Integration in den Beschlägen oder gar komplett im Möbel sind solche Anforderungen des Marktes, die wir entsprechend bedienen. Wir sehen zudem einen klaren Trend zu individuellen Möbel-Designs, bei denen auch das Innere eine große Rolle spielt wie beispielsweise bei dunklen Möbeln oder mit neuen Front-Materialien. Wir sind überzeugt, dass die smarte Küche – aus unserer Sicht die Vernetzung von mechatronischen Beschlägen innerhalb der Küche – und Smart Home in Zukunft auf Grund ihres Komforts für den Anwender eine große Rolle spielen wird. Eine smarte Küche ist für uns aber mehr als nur Sprachsteuerung: Gesprochene Kommandos sehen wir als einen von mehreren Wegen, Küchennutzer in ihrem Alltag zu unterstützen. Vor allem sinnvolle Automation ist ein wichtiger Punkt, durch den wir die Küchenarbeit entscheidend erleichtern können.
Die letzten beiden großen Entwicklungen waren unsere neue Produktkategorie der Pocketsysteme und die Box-Plattform Merivobox. Unsere neuestes Boxsystem ermöglicht mit wenigen Komponenten eine hohe Programmbreite bei effizienter Verarbeitung. Merivobox vereinfacht so Produktionsabläufe und steigert dank dem Plattformgedanken die Effizienz in der Herstellung. Unsere Pocketsysteme unterstützen den Trend zum offenen Wohnen, die das Verbergen einzelner Bereiche ermöglichen, solange diese nicht genutzt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Küchenzeile, das Homeoffice oder ein Hauswirtschaftsraum gekonnt inszeniert werden soll. Die Türen verschwinden beim Öffnen unserer cleveren Lösungen in schmalen Pockets neben der Möbelzeile und ermöglichen somit die optimale Nutzung des Bereichs. Mit dem Schließen entsteht ein aufgeräumtes Gesamtbild, trotz multifunktionaler Raumnutzung.
Ob schon alles erfunden ist? Natürlich nicht. Es gibt immer einen nächsten Schritt. Erst recht, wenn es um funktionale Komponenten in der Küche geht. Die Branche bietet zwar schon heute einen hohen Standard, aber es wird sich noch viel verändern in den nächsten Jahren.
Im Grunde geht es um die Emotionalisierung von Technik. Nicht mehr und nicht weniger. Und alles, was wir tun, sollte sich an diesem Credo ausrichten.
Dass es uns tatsächlich gelungen ist, eine 8 mm schmale Schubkastenzarge zu entwickeln und sie zudem wirtschaftlich zu industrialisieren. Ein solches Vorhaben wäre noch bis vor Kurzem technisch undenkbar gewesen. Dieser Grenzgänger des physikalisch Machbaren mit seiner minimalistischen Erscheinung verleiht jedem Möbel einen WOW-Faktor.
Nein mit Sicherheit noch nicht! Ich denke zum Beispiel, dass es in Zukunft noch Möglichkeiten gibt, weitere Öffnungsoptionen am Möbel umzusetzen. Wie man sieht, schreitet auch die Entwicklung von Features für mehr Ergonomie und besseren Nutzerkomfort immer weiter voran. – Alles, was den Alltag leichter und bequemer macht. Das sehen wir schon jetzt z.B. bei der Weißen Ware mit unserem praktischen Liftsystem ComfortSwing im Geschirrspüler. Zum wichtigen Thema Komfort werden wir künftig noch einige Produktinnovationen sehen.
Entwicklungsfelder der Zukunft gibt es noch viele. Hier ist die Frage: Wie veränderungsbereit ist die Branche? Zum Beispiel in der Bereitschaft, sich auch einmal von einem Standardkorpus zu entfernen und weitere Lösungen zuzulassen. Der normative Aufbau eines Küchenschrankes ist Fluch und Segen zugleich. Würde man den Endverbraucher fragen, würde sich dieser schon noch einige Erleichterungen oder Verbesserungen wünschen. Und schaut man sich einmal die findigen Selfmade-Lösungen auf Pinterest, Instagram und Co. an, wird schnell klar, dass es hier noch reichlich Ansätze für Weiterentwicklungen gibt, auf die der Markt nur gewartet hat.
Ein großer Meilenstein für Hettich war auf alle Fälle AvanTech YOU, der ultimativ wandelbare Schubkasten. Damit haben wir auf Basis unseres bewährten Plattform-Prinzips eine ganz neue Produktgeneration realisiert. AvanTech YOU lässt sich perfekt allen Individualisierungswünschen anpassen, auch noch nach dem Verkauf der Möbel vor Ort beim Kunden. So wird dem Wunsch nach mehr Persönlichkeit und dem eigenen Stil Rechnung getragen, und das ein Leben lang. Zu unseren wichtigen Entwicklungen gehört ebenso das Schiebetürsystem TopLine XL, der einfach zu verarbeitende Allrounder. Von schwersten Kleiderschranktüren bis hin zu wandelbaren Räumen ist mit ihm alles möglich, und dazu ist das System noch ganz einfach und perfekt einzustellen.
Christoph Messing, Deutschland-Geschäftsführer von Linak. Der dänische Hersteller ist auf Antriebstechnik zur Höhenverstellung spezialisiert.
Generell sehen wir mehr Bewegung in der Küche. Dabei kann man nicht sagen, dass es ein Hauptanwendungsgebiet gibt, sondern es sind vielmehr kundenindividuelle Lösungen gerade im Bereich Stauraum, aber natürlich auch häufig, um die unterschiedliche Körpergröße verschiedener Personen auszugleichen. Unsere Technik ist mittlerweile standardmäßig mit Lithium-Ionen-Akkutechnologie ausgerüstet, was Anwendungen auch räumlich noch flexibler macht.
Es wird zukünftig noch mehr darum gehen, Möbel flexibel nutzen zu können. Die Corona-Krise hat uns allen gezeigt, dass man von heute auf morgen von zu Hause arbeitet und dabei oft am Küchen- oder Esstisch sitzt. Da in vielen Haushalten nicht der Platz für einen separaten Arbeitsplatz vorhanden ist, macht es Sinn, den vorhanden Platz bestmöglich zu nutzen. Hier kommt Linak ins Spiel. Wir machen mit unseren Lösungen Ansatztheken, Arbeitsflächen und Tische verstellbar und somit flexibel nutzbar. Dies sind Funktionen, nach denen wir nicht erst seit Corona eine hohe Nachfrage der Endkunden verspüren. Die Industrie muss dies nur etwas durchgängiger umsetzen.
Da Linak sehr breit aufgestellt ist, gibt es ständig neue Entwicklungen. Übergeordnet kann man sagen, dass das Thema Vernetzung und Digitalisierung einen großen Stellenwert einnimmt, da unsere Lösungen ja auch in Home-Connect-Systeme integriert werden können. Dadurch sind die Funktionen unserer Technik noch einfacher einzusetzen und integrieren sich mehr oder weniger automatisiert in den Alltag.
Wenn schon alles erfunden wäre, dann wären wir als Entwickler ja arbeitslos. Das ist bekanntlich nicht der Fall – eher wachsen die Entwicklungsabteilungen der Beschlaghersteller, als dass sie reduziert würden.
Aber zu Ihrer eigentlichen Frage: Der grundsätzliche Aufbau von Führungen und Scharnieren hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert – trotzdem gibt es eine Vielzahl von Detailverbesserungen, die den Bedienkomfort und insbesondere auch die Verarbeitung beim Möbelhersteller optimiert haben.
Stand bis vor einigen Jahren bei der Entwicklung eines neuen Funktionsbeschlages noch Technik und Aussehen im Vordergrund, so ist heute der Aspekt der kompletten Lieferkette und insbesondere die automatische Verarbeitung bzw. Montage in den Fokus der Möbelhersteller gerückt.
Folglich gibt es Weiterentwicklungen und Verbesserungen an bestehenden Produkten – sei es durch neue Werkstoffe oder, wie soeben genannt, durch neue Fertigungstechnologien. Gerade diese weisen eine unglaubliche Dynamik auf und fordern uns immer wieder, selbst bei lange eingeführten Produkten.
Zum anderen sind durch neue Designansätze für Möbel auch immer wieder neue Lösungen für die Beschlagtechnik gefordert. Und: Wir als Beschlag- bzw. Zubehörlieferant sind auch aus eigenem Antrieb bestrebt, für die Verbraucher – und damit natürlich für unsere OEM – innovative neue Ideen zu präsentieren. Denken Sie beispielsweise an unseren Qanto!
Darüber macht sich wohl jeder in der Wertschöpfungskette Möbel unternehmerisch Beteiligte so seine Gedanken. Und behält diese aus verständlichen Gründen bevorzugt für sich.
Aber grundsätzlich habe ich es ja bereits anklingen lassen, wohin die Reise geht: Durch den hohen Investitionsbedarf für die Automatisierung der Beschlagmontage wird es für uns als Zulieferer immer anspruchsvoller, Innovationen beim Möbelhersteller zu platzieren. Denn beim Möbelproduzenten steht neben der Bewertung der Funktion und Gestaltung von neuen Beschlägen immer mehr die entsprechende fertigungstechnische und logistische Umsetzung im Fokus.
Vollautomatisierung, Robotik oder Digitalisierung seien als Stichworte hier genannt. So bin ich als Anbieter von Beschlag- und anderen Zulieferlösungen also nicht mehr automatisch der am meisten Begehrte, weil die Funktionslösung und das äußere Bild meines Produkts so toll sind. Sondern erst dann, wenn mein Erzeugnis auch genau in die aktuelle und sich ständig weiterentwickelnde Fertigungstechnologie des Möbelproduzenten passt, ist meine Mission erfüllt.
Die Aufgaben für uns als Entwickler sind daher komplexer geworden, aber das macht ja eigentlich den Reiz unserer Arbeit aus. Und gewiss erwartet der Markt auch in Zukunft überraschende, gute Beschlaglösungen – wobei die Ansprüche an Produkt, Technologie und Entwicklungsinvestitionen in Zukunft sicher weiter steigen werden.
Bereits bei Ihrer ersten Frage hatte ich unseren Qanto genannt. Und das aus sehr gutem Grund: Diese Eckschranklösung genießt absolute Alleinstellung im Markt, spricht den anspruchsvollen Verbraucher sowohl emotional als auch rational an und ist die „Nummer 1“ in unserer Produktrange.
Sie können mir glauben, dass dieses Topprodukt für uns selbst herausfordernd war: Erstmals haben wir einen Linearantrieb eingesetzt, erstmals erfolgt die Raumnutzung in der Ecke von oben anstatt von vorn. Wie Sie wissen, wollten wir damit nicht nur aus designerischer Sicht ein Zeichen setzen, sondern gerade in ergonomischer.
Die Bedeutung des Qanto ersehen Sie auch daraus, welch breite Palette an ergänzenden Features, an individuellen Ausstattungsmerkmalen und an mechanischen Detaillösungen wir bis heute dazu entwickelt haben. Diesen Aufwand betreibt ein Unternehmen eher selten für ein Volumenprodukt, aber fast immer für sein Entwicklungshighlight!
In den letzten fünf Jahren sind Beschläge immer komfortabler und unsichtbarer geworden. Unter dem Motto "leise, leiser, lautlos" öffnen sich auch raumhohe Türen und Möbelfronten mit intelligenter Beschlagtechnik lautlos und auf Wunsch sogar elektrisch.
Optimale Laufeigenschaften, höchster Komfort, aber auch die reibungslose und schnelle Montage sind Eigenschaften, die bei Salice im Fokus stehen und an denen wir kontinuierlich arbeiten.
Multifunktionale Räume sind das Thema der Stunde. In kleinen Räumen finden unterschiedliche Aktivitäten statt und dieselben Möbel müssen tagsüber im Homeoffice funktionieren und am Abend unsichtbar verschwinden. Sie brauchen Beschläge, die nahezu unsichtbar mit dem Möbel verschmelzen und gleichzeitig maximale Funktionalität bieten. Im Bereich der Schiebetürsysteme gibt es bereits viele Möglichkeiten, multifunktionale Räume auszustatten. Bei Scharnieren und Klappen sehen wir noch Spielraum für smarte Beschläge mit hoher Funktionalität.
In der jüngeren Vergangenheit zählt Air zu unseren erfolgreichsten Innovationen. Wie das erste voll gedämpfte Scharnier, das auch von Salice kam, hat Air bei Funktion und Größe einen neuen Maßstab für ein dreidimensional verstellbares, voll gedämpftes Möbelscharnier definiert. Es lässt sich vollständig in den Korpus integrieren und erfüllt damit gerade jetzt alle aktuellen Anforderungen des Marktes.
Darüber hinaus sind die komplexen Schiebetürensysteme, flächenbündig oder auch als Pocket Doors sehr starke Lösungen, mit denen wir technisch überzeugen und zu den Marktführern gehören.
Die Innovationen der letzten Jahre und Jahrzehnte waren in erster Linie produktionsgetrieben (Rationalisierung, Montagevereinfachung, logistische Vorteile) und hatten weniger den Mehrwert für den Endkonsumenten im Blick. Insbesondere aus Sicht des Endverbrauchers, der nach ergonomischen, individuellen oder ästhetischen Lösungen sucht, bleiben viele Aspekte unvollständig. Aus diesem Grunde sind wir auch im Dialog mit unseren Kunden, hören zu und wissen daher, dass es noch viel zu erfinden gibt.
Neben den äußerlich immer ähnlicher werdenden Produkten kommt den inneren Werten eine zunehmende Bedeutung zu, um Differenzierung zu schaffen. Es fehlt vielen Produkten der Küchen- und Möbelindustrie insgesamt die Tiefe, die nicht hinter der Front aufhört. Design und Ästhetik ist nicht nur eine Frage der Oberfläche und Farbe, sondern eine Frage der Durchgängigkeit im Gesamtprodukt. Außerdem bleiben natürlich die bessere Nutzbarkeit von Stauraum und der leichtere Zugang ein ständiges Thema im Bereich der Weiterentwicklung.
Die neuen Technologien der Industrie 4.0 haben uns natürlich enorm weitergebracht. Wir haben unsere Prozesse flexibler, sicherer und funktionaler gestaltet und arbeiten kontinuierlich daran die Intelligenz unserer Produktion zu steigern.
Diese Entwicklung hat auch dabei geholfen, unser Know-how in der Funktionalität von Küchenbeschlägen auf alle anderen Bereiche des Wohnens anzuwenden. Es ist uns gelungen, eine Produktmodularität zu entwickeln, die für uns als mittelständisches Unternehmen machbar ist, die sich aber gleichzeitig auch an individuelle Wünsche, Märkte und Zielgruppen anpassen lässt.