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Spezial Neue Ideen:

Cradle to Cradle

Vom weniger Schlechten zum Guten

Die Wirtschaft ist im Wandel. Doch wie der Wandel aussehen kann und muss, darüber wird so viel und heiß diskutiert wie lange nicht. Einen Ansatz liefert das Cradle-to-Cradle-Konzept, das auf Innovation setzt und explizit nicht auf Nachhaltigkeit im technischen Kontext. Wir haben uns mit dem Erfinder dieses Konzepts, Prof. Michael Braungart, und mit Marc-Oliver Drescher, Begründer der MODC-InnovationPositive-Methode, bei Braungart EPEA in der Hamburger Altstadt getroffen.

17 April 2024

Denken in Kreisläufen: Prof. Michael Braungart

Anstöße zum Umdenken: Marc-Oliver Drescher

INSIDE: Herr Braungart, erklären Sie uns doch einmal, was Cradle to Cradle überhaupt ist.

Prof. Michael Braungart: Dabei geht es darum, ein Produkt so zu designen und die entsprechenden Materialien so auszusuchen, dass beim Gebrauch des Produkts keine Schadstoffe in die Umwelt abgegeben werden und man die Materialien direkt wieder zurückgewinnen kann, ohne dass man dafür noch etwas Zusätzliches braucht, um etwa die Schadstoffe wieder zu entfernen. Essbare Möbelbezugsstoffe sind dafür ein Beispiel. Man muss sich vorstellen: Viele Bezugsstoffe bei Sofas sind so giftig, dass sie als Sondermüll entsorgt werden müssen. Bei Cradle to Cradle gehen wir so weit, dass wir sagen: Die Zutaten für den Bezugsstoff müssen so gewählt werden, dass man den Bezugsstoff auch essen könnte. Damit entstehen übrigens auch viel günstigere Produkte, denn für die Produktion braucht man dann keinen Arbeitsschutz und es braucht auch keine Kläranlagen. Man kann das sogar später als Mulchmaterial an Gärtnereien abgeben. 

Cradle to Cradle bezieht sich aber nicht nur auf Möbelbezugsstoffe. 

M.B.: Natürlich nicht, Ähnliches findet man mittlerweile in ganz vielen Branchen. Es gibt mittlerweile über 16.000 zertifizierte Cradle-to-Cradle-Produkte. Notwendig sind dafür aber oft ganz neue Geschäftsmodelle, bei denen man beispielsweise nur das Nutzungsrecht abgibt. Dadurch entsteht nie Abfall. Damit können wir 50 Jahre Weltuntergangsdiskussion in Innovation umsetzen, die nicht mit Sklavenarbeit konkurriert, weil die Produkte wesensmäßig besser sind. 

Nennen Sie uns doch mal ein Beispiel. 

M.B.: Es gibt beispielsweise einen großen Möbelhersteller, der keine Schreibtischstühle verkauft, sondern zehn Jahre gesundes Sitzen – und er setzt dafür statt, wie gewöhnlich, 27 Plastiksorten nur zwei Plastiksorten ein. In diesem Fall ist der Stuhl mit einem Pfand versehen, das nach genau zehn Jahren fällig wird. So weiß der Hersteller genau, wann das Material wieder auftaucht. Auf diese Weise kauft der Kunde keinen Stuhl, sondern eine Versicherung für das gesunde Sitzen. Das wird sich durchsetzen, da bin ich mir sicher. 

Zählt dabei jede Anstrengung, die man als Unternehmen macht?

M.B.: Bei vielen Ansätzen bleiben Unternehmen auf halbem Wege stecken und verursachen nur Fehlkosten. Nehmen Sie den Papierbereich: Vor 30 Jahren enthielt ein Druckerzeugnis in Deutschland 90 giftige Stoffe, jetzt enthalten die meisten Druckerzeugnisse – durch die Anstrengungen von Firmen, durch Gewerkschaften, durch Gesetzgebung – nur noch 50 giftige Stoffe, die eine Verbrennung im Ofen oder eine Kompostierung ausschließen. Aber wo ist der Unterschied, ob ich nun 90-mal erschossen werde oder nur 50-mal. Ich habe viel Geld ausgegeben, aber ich habe wesensmäßig nichts erreicht. Jetzt gibt es Druckerzeugnisse, die so hergestellt wurden, dass man sie komplett kompostieren oder verbrennen kann. Und dann ist wesensmäßig etwas Besseres entstanden, andernfalls habe ich mich nur bemüht. Es ist so, wie wenn ich in Hamburg bin und sage, ich muss um 9 Uhr in Zürich sein und laufe schon mal los. Der Schritt in die richtige Richtung hilft mir gar nichts, wenn ich nicht ankomme. Und so haben viele Unternehmen viel Geld ausgegeben, gerade im Möbelbereich, und sind überall auf halbem Wege steckengeblieben. 

Aber ein Schritt in die richtige Richtung ist doch immerhin besser als gar kein Schritt. Und: Nachhaltigkeit kostet ja auch erstmal Geld. 

M.B.: Ja, da heißt es dann, wir können uns die Nachhaltigkeit nicht erlauben, weil es uns grade so schlecht geht. Die Nachhaltigkeit macht den Kunden zum Feind. Nachhaltigkeit ist innovationsfeindlich. Nachhaltigkeit wünsche ich mir für die Biosphäre, ich wünsche mir, dass es Löwen, Tiger und Elefanten auch noch in 50 Jahren gibt, genauso wie Eichen, Birken und Buchen. Aber ich möchte in 50 Jahren nicht auf dem gleichen Schreibtischstuhl sitzen. Mit der Kreislaufwirtschaft hänge ich immer mit dem gleichen Zeug fest – wie in einer Endlosschleife. Aber bei Cradle to Cradle geht es nicht um Kreisläufe, sondern um Räume: Nachhaltigkeit ist für biologische Systeme wünschenswert, aber für technische Systeme ist sie völlig verheerend, weil sie das Bestehende zementiert. 

Sie sagen Dinge, die sich so selbstverständlich anhören, aber für viele Menschen eben gar nicht selbstverständlich sind. Was ist denn nun eigentlich der Unterschied zwischen Kreislaufwirtschaft und Cradle to Cradle? Wie kommt man an Unternehmer ran, die sich genau diese Frage stellen?

M.B.: Für mich sind die Unternehmer gar nicht das Problem, sondern das mittlere Management. Das Top-Management hilft dabei, effektiv zu sein. Das mittlere Management hat die Aufgabe, effizient zu sein. Und dem mache ich sozusagen zusätzlichen Stress. Vor allem die oberste Ebene, gerade in Familienunternehmen, versteht in der Regel sofort, wovon ich rede. Sie verstehen, dass es nicht um Effizienz geht, sondern um Effektivität. Die erste Frage ist nicht, wie mache ich es richtig, sondern was ist das Richtige? Meine größten Feinde sind inzwischen die Nachhaltigkeitstrottel, weil die zusätzliches Geld kosten. Sie haben oft kein Interesse, die bestehenden Dinge zu ändern. Im Gegenteil: Sie machen die Plastikfolie noch um ein paar Prozent leichter, dann lohnt es sich umso weniger, sie wieder einzusammeln. 

Im Bemühen nachhaltig zu sein, läuft also vieles falsch.

M.B.: Ja. Noch ein Beispiel: Ich untersuche beispielsweise seit 36 Jahren Muttermilchproben – es gab bisher keine einzige Probe, die als Trinkmilch verkauft werden dürfte. Die Verunreinigung ist bei einem Drittel der Proben auf Baumaterialien und Möbel zurückzuführen, weil dort Materialien verwendet werden, von denen viele denken, dass sie natürlich sind, die aber so verändert wurden, dass sie sich in Lebewesen anreichern. 

Und das können Sie nachweisen?

M.B.: Muss ich wirklich nachweisen, dass ich von den rund 2.500 Chemikalien krank werde? Bei sexueller Belästigung muss ich auch nicht nachweisen, dass ich davon krank geworden bin. Ich habe ein Recht darauf, nicht belästigt zu werden. 

Aber: Mit jeder Autofahrt, die ich weniger mache, ist doch eigentlich auch was gewonnen?

M.B.: Ich schütze nicht, indem ich weniger zerstöre. Das ist so, wie wenn ich sagen würde, ich schütze mein Kind, indem ich es nicht zehnmal, sondern nur fünfmal schlage. Damit habe ich aber nichts Gutes getan, sondern nur etwas weniger Schlechtes. Vor allem erreiche ich damit, dass die Leute damit das Bestehende optimieren und irgendwann denken, dass das gar nicht so schlimm sei. Der Übergang ist dabei sehr schleichend. Sie kennen das Beispiel mit dem Frosch, der sich in einem Wasserglas befindet, dass allmählich erhitzt wird? Der Frosch merkt das nicht und verpasst den Zeitpunkt, an dem er herausspringen müsste. So ist das oft auch bei uns: Indem wir Dinge optimieren, machen wir sie umso gründlicher falsch. 

Sie halten nichts davon, dass die Branche klimaneutral werden will?

M.B.: Wie albern. Ich komme ja auch nicht nach Hause und bin dann kinderneutral. Genauso albern wie das europäische Recht auf Reparatur. Nein, ich habe ein Recht auf Intaktheit. Warum soll ich mich denn auch noch um die Reparatur kümmern? 

Für einen Möbler klingt das wenig praktikabel: Wie wird denn nun ein Schuh draus?

M.B.: Mit diesem Schuh hier, der ist komplett biologisch abbaubar. Wenn ich den wegwerfe, dann enthält der noch Samen von seltenen Blumen, so dass ich durch das Wegwerfen die Artenvielfalt unterstütze. Die Natur freut sich sogar, wenn ich den Schuh wegschmeiße, weil ich etwas Gutes tue. 

Was ist das für ein toller Schuh?

M.B.: Ein Schuh der Firma Puma aus der Serie ­InCycle, den wir gemeinsam entwickelt haben. 116 Produkte gibt es in der Serie InCycle. Der Vorstandsvorsitzende Jochen Zeitz hatte sofort die Chance begriffen. Er wusste aber nicht, wie er es kommunizieren soll. Wenn man beispielsweise sagt: „Jetzt ohne Quecksilber“, dann fragt sich doch jeder: „Was, da war vorher Quecksilber drin?” So wie Albert Einstein einmal gesagt hat: „Facts are facts, but perception is reality.” 

Wie könnte man es besser machen?

M.B.: Die meisten Dinge, gerade Möbel, verschleißen eigentlich nicht, sie werden nur genutzt. Es gibt sozusagen biologische Nährstoffe und es gibt technische Nährstoffe. Ich verbrauche keine Waschmaschine, ich verbrauche keinen Fernseher, ich verbrauche keinen Schreibtisch. Ich nutze das ja nur. Das alles sind also technische Nährstoffe, bei denen man das beste Material verwenden kann und nicht den billigsten Dreck, damit sie nach dem Verschleiß zurück in biologische Systeme gehen können.

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Die Wirtschaft ist im Wandel. Doch wie der Wandel aussehen kann und muss, darüber wird so viel und heiß diskutiert wie lange nicht. Einen Ansatz liefert das Cradle-to-Cradle-Konzept, das auf Innovation setzt und explizit nicht auf Nachhaltigkeit im technischen Kontext. Wir haben uns mit dem Erfinder dieses Konzepts, Prof. Michael Braungart, und mit Marc-Oliver Drescher, Begründer der MODC-InnovationPositive-Methode, bei Braungart EPEA in der Hamburger Altstadt getroffen.

17 April 2024

Marc-Oliver Drescher

Prof. Michael Braungart

    INSIDE: Herr Braungart, erklären Sie uns doch einmal, was Cradle to Cradle überhaupt ist.

    Prof. Michael Braungart: Dabei geht es darum, ein Produkt so zu designen und die entsprechenden Materialien so auszusuchen, dass beim Gebrauch des Produkts keine Schadstoffe in die Umwelt abgegeben werden und man die Materialien direkt wieder zurückgewinnen kann, ohne dass man dafür noch etwas Zusätzliches braucht, um etwa die Schadstoffe wieder zu entfernen. Essbare Möbelbezugsstoffe sind dafür ein Beispiel. Man muss sich vorstellen: Viele Bezugsstoffe bei Sofas sind so giftig, dass sie als Sondermüll entsorgt werden müssen. Bei Cradle to Cradle gehen wir so weit, dass wir sagen: Die Zutaten für den Bezugsstoff müssen so gewählt werden, dass man den Bezugsstoff auch essen könnte. Damit entstehen übrigens auch viel günstigere Produkte, denn für die Produktion braucht man dann keinen Arbeitsschutz und es braucht auch keine Kläranlagen. Man kann das sogar später als Mulchmaterial an Gärtnereien abgeben. 

    Cradle to Cradle bezieht sich aber nicht nur auf Möbelbezugsstoffe. 

    M.B.: Natürlich nicht, Ähnliches findet man mittlerweile in ganz vielen Branchen. Es gibt mittlerweile über 16.000 zertifizierte Cradle-to-Cradle-Produkte. Notwendig sind dafür aber oft ganz neue Geschäftsmodelle, bei denen man beispielsweise nur das Nutzungsrecht abgibt. Dadurch entsteht nie Abfall. Damit können wir 50 Jahre Weltuntergangsdiskussion in Innovation umsetzen, die nicht mit Sklavenarbeit konkurriert, weil die Produkte wesensmäßig besser sind. 

    Nennen Sie uns doch mal ein Beispiel. 

    M.B.: Es gibt beispielsweise einen großen Möbelhersteller, der keine Schreibtischstühle verkauft, sondern zehn Jahre gesundes Sitzen – und er setzt dafür statt, wie gewöhnlich, 27 Plastiksorten nur zwei Plastiksorten ein. In diesem Fall ist der Stuhl mit einem Pfand versehen, das nach genau zehn Jahren fällig wird. So weiß der Hersteller genau, wann das Material wieder auftaucht. Auf diese Weise kauft der Kunde keinen Stuhl, sondern eine Versicherung für das gesunde Sitzen. Das wird sich durchsetzen, da bin ich mir sicher. 

    Zählt dabei jede Anstrengung, die man als Unternehmen macht?

    M.B.: Bei vielen Ansätzen bleiben Unternehmen auf halbem Wege stecken und verursachen nur Fehlkosten. Nehmen Sie den Papierbereich: Vor 30 Jahren enthielt ein Druckerzeugnis in Deutschland 90 giftige Stoffe, jetzt enthalten die meisten Druckerzeugnisse – durch die Anstrengungen von Firmen, durch Gewerkschaften, durch Gesetzgebung – nur noch 50 giftige Stoffe, die eine Verbrennung im Ofen oder eine Kompostierung ausschließen. Aber wo ist der Unterschied, ob ich nun 90-mal erschossen werde oder nur 50-mal. Ich habe viel Geld ausgegeben, aber ich habe wesensmäßig nichts erreicht. Jetzt gibt es Druckerzeugnisse, die so hergestellt wurden, dass man sie komplett kompostieren oder verbrennen kann. Und dann ist wesensmäßig etwas Besseres entstanden, andernfalls habe ich mich nur bemüht. Es ist so, wie wenn ich in Hamburg bin und sage, ich muss um 9 Uhr in Zürich sein und laufe schon mal los. Der Schritt in die richtige Richtung hilft mir gar nichts, wenn ich nicht ankomme. Und so haben viele Unternehmen viel Geld ausgegeben, gerade im Möbelbereich, und sind überall auf halbem Wege steckengeblieben. 

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      Aber ein Schritt in die richtige Richtung ist doch immerhin besser als gar kein Schritt. Und: Nachhaltigkeit kostet ja auch erstmal Geld. 

      M.B.: Ja, da heißt es dann, wir können uns die Nachhaltigkeit nicht erlauben, weil es uns grade so schlecht geht. Die Nachhaltigkeit macht den Kunden zum Feind. Nachhaltigkeit ist innovationsfeindlich. Nachhaltigkeit wünsche ich mir für die Biosphäre, ich wünsche mir, dass es Löwen, Tiger und Elefanten auch noch in 50 Jahren gibt, genauso wie Eichen, Birken und Buchen. Aber ich möchte in 50 Jahren nicht auf dem gleichen Schreibtischstuhl sitzen. Mit der Kreislaufwirtschaft hänge ich immer mit dem gleichen Zeug fest – wie in einer Endlosschleife. Aber bei Cradle to Cradle geht es nicht um Kreisläufe, sondern um Räume: Nachhaltigkeit ist für biologische Systeme wünschenswert, aber für technische Systeme ist sie völlig verheerend, weil sie das Bestehende zementiert.

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