INSIDE: Herr Braungart, erklären Sie uns doch einmal, was Cradle to Cradle überhaupt ist.
Prof. Michael Braungart: Dabei geht es darum, ein Produkt so zu designen und die entsprechenden Materialien so auszusuchen, dass beim Gebrauch des Produkts keine Schadstoffe in die Umwelt abgegeben werden und man die Materialien direkt wieder zurückgewinnen kann, ohne dass man dafür noch etwas Zusätzliches braucht, um etwa die Schadstoffe wieder zu entfernen. Essbare Möbelbezugsstoffe sind dafür ein Beispiel. Man muss sich vorstellen: Viele Bezugsstoffe bei Sofas sind so giftig, dass sie als Sondermüll entsorgt werden müssen. Bei Cradle to Cradle gehen wir so weit, dass wir sagen: Die Zutaten für den Bezugsstoff müssen so gewählt werden, dass man den Bezugsstoff auch essen könnte. Damit entstehen übrigens auch viel günstigere Produkte, denn für die Produktion braucht man dann keinen Arbeitsschutz und es braucht auch keine Kläranlagen. Man kann das sogar später als Mulchmaterial an Gärtnereien abgeben.
Cradle to Cradle bezieht sich aber nicht nur auf Möbelbezugsstoffe.
M.B.: Natürlich nicht, Ähnliches findet man mittlerweile in ganz vielen Branchen. Es gibt mittlerweile über 16.000 zertifizierte Cradle-to-Cradle-Produkte. Notwendig sind dafür aber oft ganz neue Geschäftsmodelle, bei denen man beispielsweise nur das Nutzungsrecht abgibt. Dadurch entsteht nie Abfall. Damit können wir 50 Jahre Weltuntergangsdiskussion in Innovation umsetzen, die nicht mit Sklavenarbeit konkurriert, weil die Produkte wesensmäßig besser sind.
Nennen Sie uns doch mal ein Beispiel.
M.B.: Es gibt beispielsweise einen großen Möbelhersteller, der keine Schreibtischstühle verkauft, sondern zehn Jahre gesundes Sitzen – und er setzt dafür statt, wie gewöhnlich, 27 Plastiksorten nur zwei Plastiksorten ein. In diesem Fall ist der Stuhl mit einem Pfand versehen, das nach genau zehn Jahren fällig wird. So weiß der Hersteller genau, wann das Material wieder auftaucht. Auf diese Weise kauft der Kunde keinen Stuhl, sondern eine Versicherung für das gesunde Sitzen. Das wird sich durchsetzen, da bin ich mir sicher.
Zählt dabei jede Anstrengung, die man als Unternehmen macht?
M.B.: Bei vielen Ansätzen bleiben Unternehmen auf halbem Wege stecken und verursachen nur Fehlkosten. Nehmen Sie den Papierbereich: Vor 30 Jahren enthielt ein Druckerzeugnis in Deutschland 90 giftige Stoffe, jetzt enthalten die meisten Druckerzeugnisse – durch die Anstrengungen von Firmen, durch Gewerkschaften, durch Gesetzgebung – nur noch 50 giftige Stoffe, die eine Verbrennung im Ofen oder eine Kompostierung ausschließen. Aber wo ist der Unterschied, ob ich nun 90-mal erschossen werde oder nur 50-mal. Ich habe viel Geld ausgegeben, aber ich habe wesensmäßig nichts erreicht. Jetzt gibt es Druckerzeugnisse, die so hergestellt wurden, dass man sie komplett kompostieren oder verbrennen kann. Und dann ist wesensmäßig etwas Besseres entstanden, andernfalls habe ich mich nur bemüht. Es ist so, wie wenn ich in Hamburg bin und sage, ich muss um 9 Uhr in Zürich sein und laufe schon mal los. Der Schritt in die richtige Richtung hilft mir gar nichts, wenn ich nicht ankomme. Und so haben viele Unternehmen viel Geld ausgegeben, gerade im Möbelbereich, und sind überall auf halbem Wege steckengeblieben.